Newsletter #010 - Overthinking – Die Neigung zu lange Nachzudenken

Der Herausforderung Overthinking stelle ich mich immer wieder, sobald ich neue Projekte anpacke: Ich tendiere dazu, vorab möglichst viele Lösungsoptionen zu prüfen, um rückblickend den optimalen Weg gewählt zu haben. Ich möchte mir im Nachhinein auf die Schulter klopfen und sagen können: „Das hast du perfekt gelöst.“ Der Haken an der Sache: Mit diesem Ansatz habe ich zwangsläufig den langsamsten Weg gewählt. Ich möchte euch meine Lösungsidee vorstellen.

10 Minuten
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In diesem Artikel – Teil 6 von „Wissen in Bildern“ – berichte ich von japanischen Techniken, die mir beim Overthinking helfen. Sie beruhen auf bewährten, traditionellen Konzepten und Methoden wie innerer Ruhe, Achtsamkeit und Akzeptanz. Gepaart mit Erkenntnissen aus Büchern wie Rapt: Attention and the Focused Life helfen mir diese Techniken täglich aufs Neue.

Zu Beginn möchte ich das sinnvolle Nachdenken und die Auseinandersetzung mit einem Thema vom Overthinking abgrenzen. Ich werde den Anglizismus im weiteren Verlauf verwenden, weil ich jegliche Übersetzungen wie „zu viel nachdenken“, „übermäßiges Grübeln“ oder „Überdenken“ zu sperrig finde. Die Varianten „Kopfzerbrechen“ und „Gedankenkarussell“ sind schöne bildliche Metaphern, treffen aus meiner Sicht jedoch nicht den Kern der Sache. Steigen wir ein.

Wann wird Nachdenken zu Overthinking?

Für mich beginnt der Übergang mit dem „Was-wäre-wenn“-Spiel. Overthinking steht im Gegensatz zum konstruktiven Problemlösen, da es keine Lösungen liefert, sondern mich in destruktiven Gedankenspiralen gefangen hält. Etwas nüchterner lässt es sich wie folgt umschreiben:

Overthinking ist die Tendenz, zu viel oder zu lange über etwas nachzudenken, oft in Form eines endlosen Grübelns, ohne eine Lösung zu finden. Es zeigt sich häufig durch das ständige Wiederholen von Gedanken in einer inneren Schleife (daher das deutsche Wort Gedankenkarussell), in der Entscheidungen, vergangene Erlebnisse oder soziale Situationen immer wieder analysiert und hinterfragt werden (daher das deutsche Wort Kopfzerbrechen). Sobald dies zu Überforderung, Entscheidungsunfähigkeit, Stress, Angst, Müdigkeit oder Schlafproblemen führt, ist die Grenze überschritten. Ein typischer Gedankengang ist „Was wäre, wenn …?“ oder das ständige Hinterfragen und Zweifeln an eigenen Entscheidungen.

Ich halte stetig nach Möglichkeiten Ausschau, dieser Herausforderung zu begegnen. Einen vielversprechenden Weg habe ich in einer Auflistung japanischer Techniken als Bilderserie auf LinkedIn gefunden. Da es sich bei den LinkedIn-Bildern nur um eine Überschrift mit Fließtext handelt, habe ich euch die erspart und Bilder hinzugefügt, bei denen die Illustrationen einen Mehrwert bieten.

Techniken zum Umgang mit Overthinking

Die folgenden Techniken stärken Achtsamkeit, inneren Frieden sowie eine gelassenere Haltung gegenüber schwierigen Gedanken und Situationen. Hierbei handelt es sich um dieselben Werkzeuge, die ich in meinem Artikel über das Streben nach einem glücklichen Leben genannt habe – nur in anderer Form und mit anderem Fokus.

1. Ikigai

„Ikigai“ ist ein japanisches Konzept, das den Sinn des Lebens, genauer gesagt das, wofür es sich zu leben lohnt, beschreibt. Es setzt sich aus 生き (iki: Leben) und 甲斐 (gai: Wert, Nutzen) zusammen. Es steht für das Gefühl, einen Lebenssinn zu haben oder einen Grund, morgens aufzustehen. Das Konzept umfasst vier zentrale Bereiche:

  • das, was man liebt,
  • das, was man gut kann,
  • das, wofür man bezahlt werden kann,
  • das, was die Welt benötigt.

Die Schnittmenge dieser Bereiche bezeichnet den individuellen Lebenssinn – den Ikigai. Wer sein persönliches Ikigai findet und lebt, erfährt laut Forschung und japanischer Lebensweise mehr Zufriedenheit, mehr Glück und oft auch eine längere Lebensdauer.

Quelle und Übersetzung Simone Ines

Bezug zu Overthinking

Ohne diese Klarheit der Schnittmenge fehlt die eindeutige Position. Jegliche Entscheidung kann zur Argumentation werden. An diesem Punkt könnte das „Was-wäre-wenn“-Spiel beginnen. Mit der Klarheit, die Ikigai liefert, gibt es für das eigene Tun Sinn und keinen Grund für Fragen – die Position ist eindeutig. Wenn dich das Thema interessiert, kann ich dir diesen Artikel der Karrierebibel empfehlen.

2. Kaizen

Kaizen, aus dem Japanischen „Kai“ (Veränderung) und „Zen“ (zum Besseren), steht für kontinuierliche Verbesserung durch winzige, machbare Schritte – nicht durch große Sprünge. Entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg bei Toyota, um Prozesse effizienter zu gestalten, wurde es von Masaaki Imai populär: Jeder, vom Arbeiter bis zum Manager, hinterfragt seinen Alltag und optimiert ihn schrittweise. Im Kern geht es um Alltagsdisziplin: Statt Perfektion zu jagen, einen kleinen Hebel ansetzen und den Effekt beobachten.

Die Popularität dieses Ansatzes ist enorm. Mir ist es im Kontext agiler Softwareentwicklung besonders präsent. Kaizen prägt Scrum in der Sprint-Retrospektive. Das Team identifiziert eine konkrete Verbesserung, die ins nächste Sprint-Backlog aufgenommen wird und so kontinuierliches Lernen sichert. Bei Kanban gilt der Grundsatz: Arbeitsablauf visualisieren, Work-in-Progress begrenzen, Flow messen. Kleine Anpassungen verbessern den Prozess ohne große Umbrüche.

Kaizen Flow — Source Rollforming Magazine

Bezug zu Overthinking

Overthinking entsteht oft aus dem Drang nach der perfekten Lösung – ein klassischer Fehler, der Projekte lähmt, weil der Kopf in Schleifen hängt. Kaizen bricht das, indem es auf Minimal-Action setzt: Nimm ein Problem, mach einen 1-prozentigen Verbesserungsschritt und prüfe das Ergebnis. So schrumpft die Überforderung, da du nicht das große Ganze zerdenkst, sondern Momentum aufbaust. Das Ergebnis: Weniger Stress, mehr Fortschritt, weil Handeln die Gedankenspirale stoppt.

Für dieses Konzept gibt es ein Buch, das auf meiner Leseliste steht: The Spirit of Kaizen (Amazon-Affiliate-Link). Sobald ich es gelesen habe, findest du die Buchreview auf meinem Blog.

3. Shoshin

Shoshin (初心) heißt wörtlich „erster Geist“ und fordert, jeder Situation so zu begegnen, als sähest du sie zum ersten Mal – offen, eifrig, ohne Expertenarroganz. Zen-Meister Shunryu Suzuki machte es 1970 populär: „Im Anfängergeist gibt es viele Möglichkeiten, im Expertengeist nur wenige.“

Bezug zu Overthinking

Overthinking füttert sich aus dem „Ich-weiß-schon-alles“-Modus: Du drehst dich in bekannten Mustern, siehst keine Auswege mehr. Shoshin knackt das, indem es den Geist leerräumt – plötzlich tauchen Lösungen auf, die du übersehen hast, weil du zu „erfahren“ warst.

Ich mag die Einfachheit, die sich hinter diesem Ansatz verbirgt. So schwer es in der Ausführung ist, so leicht klingt die Beschreibung. Einen Schritt zurückzutreten und sich dem Thema frei von Vorurteilen und Gedanken zu nähern, hat schon oft Wunder gewirkt. Kleiner Sidekick für Softwareentwickelnde: Im Prinzip ist das Konzept des Rubber-Duckings nichts anderes.

4. Hara Hachi Bu

Die konfuzianische Regel aus Okinawa, wo Hundertjährige die Norm sind, stoppt das Essen, bevor der Magen voll ist – iss nur bis zur 80% Sättigung. Hintergrund: Sättigung benötigt 15–20 Minuten, also hört man früher auf, vermeidet Übergewicht und Krankheiten. Es geht um Mäßigung als Lebensphilosophie, nicht um Diät, sondern um Selbstkontrolle als Garant für Langlebigkeit.

Bezug zu Overthinking

Overthinking blüht in der Müdigkeit auf, die ein voller Magen verursacht … nicht ganz: Es geht mir um die mentale Leichtigkeit, dass nicht die gesamte Strecke, sondern 80 % reichen, um den größtmöglichen Nutzen zu erzeugen. Meiner Meinung nach ist es eine japanische Variante des Pareto-Prinzips, die auf das Leben angewendet wird.

5. Shinrin-Yoku

Shinrin-Yoku (森林浴) bedeutet wörtlich „Waldbad“ oder „ein Bad in der Atmosphäre des Waldes nehmen“. Der japanische Begriff setzt sich aus „shinrin“ (Wald) und „yoku“ (Bad) zusammen und beschreibt eine achtsame Praxis, bei der man langsam durch den Wald geht und sich mit allen Sinnen der Natur hingibt.

Bezug zu Overthinking

Overthinking frisst Energie durch endlose Schleifen – Shinrin-Yoku unterbricht das, indem es den Kopf entleert und Präsenz erzwingt. Ich betrachte es als Aufruf, rechtzeitig Pausen zu machen oder Feierabend zu nehmen. In meiner Entwicklerzeit erlebe ich es immer wieder: Nach dem Lunch oder am nächsten Morgen ist das unlösbare Problem binnen Minuten überwunden. Was bleibt, ist die Verwunderung darüber, dass ich das Offensichtliche zuvor nicht gesehen habe.

6. Wabi-Sabi

Wabi-Sabi 侘寂 ist ein japanisches ästhetisches Konzept, das Schönheit in Unvollkommenheit, Vergänglichkeit und Einfachheit erkennt. Es verbindet „Wabi“ 侘び, das Schlichtheit, Bescheidenheit und eine ruhige Einsamkeit ausdrückt, mit „Sabi“ 寂び, das Patina, Reife durch Alter und die Eleganz des Vergehens beschreibt.

Bezug zu Overthinking

Overthinking nährt sich vom Perfektionszwang. Fehler sind nicht erlaubt. Gut ist nicht gut genug. Damit ist der Weg frei für Selbstzweifel und Lähmung. Stattdessen gilt es, ins Machen zu kommen. Mit dem kleinstdenkbaren Schritt zu beginnen und den Dingen ihren Lauf zu lassen.

Mir begegnet das Konzept in verschiedenen Varianten im Entwickleralltag. Sei es als MVP (Minimum Viable Product) mit dem Grundsatz: Wenn du dich nicht dafür schämst, hast du zu spät releast. Oder in Verknüpfung mit Hara Hachi Bu als Pareto-Prinzip: Exzellenz strebe ich an, nur ist sie in Form von Perfektion nicht mein Ziel.

Für dieses Konzept gibt es ein Buch, das auf meiner Leseliste steht: Wabi-Sabi: Die japanische Weisheit für ein perfekt unperfektes Leben (Amazon-Affiliate-Link).

7. Ganbaru

Ganbaru (頑張る) bedeutet „sein Bestes geben“, „sich anstrengen“, „durchhalten“ oder „hartnäckig weitermachen“, oft mit dem Sinn von Ausdauer und Unnachgiebigkeit in schwierigen Zeiten. In Japan betont Ganbaru das Vollenden von Aufgaben trotz Hindernissen. Es wird im Alltag, im Sport und in der Arbeit verwendet, um Motivation zu signalisieren.

Bezug zu Overthinking

Overthinking lähmt durch endlose Analyse („Ist das optimal?“). Ganbaru kontert mit Forward-Momentum: Handle trotz Zweifel. Korrigieren und anpassen kannst du später. Dabei schwingt die Gefahr der Übertreibung mit. Ab einem gewissen Punkt ist anstelle von „Noch mehr anstrengen!“ die Wabi-Sabi-Akzeptanz angebracht.

8. Gaman

Gaman (我慢) bedeutet „Geduld und Beharrlichkeit“, „Durchhalten“ oder „das Unerträgliche mit Würde ertragen“ und beschreibt die Fähigkeit, Widrigkeiten stoisch und diszipliniert zu ertragen, ohne zu klagen. Es wurzelt im Zen-Buddhismus und umfasst Selbstbeherrschung sowie innere Stärke gegenüber Stress und Katastrophen.

Bezug zu Overthinking

Ich glaube, heutzutage ist es eine Superkraft, Dinge auszuhalten und mit Beharrlichkeit zu begegnen. Statt sich sofort abzuwenden und den Dopamin-Kick in Social Media zu suchen, sich den Dingen zu widmen. Genauso stelle ich mich dem Overthinking. Ich betrachte meinen Weitblick, Dinge wirklich bis zum Ende zu denken, als Stärke. Dazu benötige ich diese Hartnäckigkeit, die mit Gaman gemeint ist. Und ja, der Grad zum Overthinking ist schmal.

Ausblick

Mit den acht Techniken haben wir das notwendige Rüstzeug, um aus dem Abwärtsstrudel des Overthinkings auszubrechen. Gepaart mit dem Bestreben zum Glücklichsein (Newsletter #009) sind wir bereit, uns der Frage zu widmen, wie wir andere inspirieren können. Deshalb widme ich mich im kommenden Newsletter den Aspekten, die meiner Meinung nach gute Führung ausmachen.

Vielen Dank, dass du meinen Newsletter liest.

All the best – Mark

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